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EU-Digital-Gipfel in Tallinn

Eine marode digitale Infrastruktur gefährdet Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit. Die neue Bundesregierung muss endlich handeln. Ein Kommentar.

Mit seiner Rede Anfang der Woche hat Emmanuel Macron es mal wieder getan. Der französische Präsident hat allen anderen die Show gestohlen und dafür gesorgt, dass auf dem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Tallinn vor allem über seine Vorschläge zur Erneuerung der EU gesprochen wurden.

Dabei hatte Estland als Gastgeber das Zukunftsthema überhaupt auf die Agenda gesetzt: die Digitalisierung Europas. Tallinn ist dafür auch genau der richtige Ort. Denn die Esten machen den großen Mitgliedstaaten der Union schon länger vor, welches ökonomische Potenzial die konsequente Digitalisierung einer Gesellschaft haben kann.

Im digitalen Vorzeigeland sind Behördengänge schon heute überflüssig: Rezepte für Medikamente, Arbeitslosenversicherung, Steuererklärungen, Firmengründungen – alles wird digital und völlig papierlos erledigt. Selbst bei Wahlen können die Esten digital abstimmen. Und sie haben sogar ein Grundrecht auf Internetzugang in der Verfassung.

Estland spart allein aufgrund des Einsatzes von digitalen Unterschriften in der Verwaltung und der Privatwirtschaft pro Jahr zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes. Umgerechnet auf Deutschland wären das 60 Milliarden Euro. Aktuell liegen die Deutschen bei digitalen Behördengängen im EU-Vergleich aber nur auf Platz 23.

Doch die großen Vier in der Europäischen Union Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland haben insgesamt beim Thema Digitalisierung einen großen Rückstand zu den Balten und Skandinaviern.

Und auch der Gipfel in Tallinn hat wieder gezeigt, dass die großen Vier die falschen Prioritäten setzen. Sie diskutieren am liebsten über eine bessere Besteuerung der amerikanischen Internetgiganten wie Facebook, Google, Amazon und Co., obwohl sie international nur sehr schwer durchzusetzen sein wird.

Stattdessen sollten sie lieber die eigene Verwaltung ins 21. Jahrhundert befördern, digitale Bildungsangebote forcieren, Wagniskapital für die Gründung von Start-ups steuerlich stärker begünstigen und die eigene digitale Infrastruktur modernisieren.

Hier hinkt jedoch besonders Deutschland meilenweit hinterher, auch wenn Angela Merkel gerade zum wiederholten Male angekündigt hat, den für schnelles Internet notwendigen Breitbandausbau in Deutschland zur Chefsache machen zu wollen.

Die derzeitige digitale Agenda, auf die sich die große Koalition 2014 festgelegt hatte, hält den heutigen Anforderungen in keinster Weise stand. Bis 2018 wollte man danach in ganz Deutschland Übertragungsgeschwindigkeiten von mindestens 50 MBit pro Sekunde garantieren. Bei dieser Geschwindigkeit stößt man aber schon an Grenzen, wenn in einem Haushalt ein Streamingdienst wie Netflix genutzt und gleichzeitig Musik über W-Lan gehört und übers Internet telefoniert wird.

Wenn es um das Internet der Dinge geht, in dem elektronische Geräte oder ganze Fabriken über Datenleitungen miteinander kommunizieren sollen, ist unstreitig, dass man längst in Gigabit rechnen muss. Für das autonome Fahren oder den Einsatz von Telemedizin gilt das natürlich erst recht. Ein Gigabit bedeutete aber eine Erhöhung der Datengeschwindigkeit um den Faktor 20 im Vergleich zu den in Deutschland angestrebten 50 MBit.

Mit den in vielen Gegenden Deutschlands vorwiegend verlegten Kupferleitungen sind solche Geschwindigkeiten unerreichbar. Daran zeigt sich, dass es ein Fehler war, dass die Politik beim Ausbau der digitalen Infrastruktur viel zu lange auf den Markt gesetzt hat. Die Bundesregierung hat naiverweise gehofft, dass Unternehmen wie die Telekom und Vodafone bis in die ländlichen Gegenden hinein den Breitbandausbau mit den dafür notwendigen Glasfaserleitungen betreiben würden. Das haben die aber nicht getan, weil es sich nicht rentiert und ihren Aktionären daher schwer zu vermitteln gewesen wäre.

Schaffung und Erhaltung dieser elementaren Infrastruktur ist Staatsaufgabe

Gerade in einem dezentral organisierten Land wie Deutschland muss spätestens jetzt klar sein, dass die Schaffung und Erhaltung einer wirtschaftlich so elementar wichtigen Infrastruktur Staatsaufgabe ist. Andernfalls gefährdet man die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Mittelstandes. Die vielen kleineren Spitzenunternehmen haben ihren Sitz nämlich gerade nicht in den großen Städten des Landes, wo die Breitbandabdeckung noch verhältnismäßig gut ist.

Die sofortige Modernisierung der digitalen Infrastruktur muss für die neue Bundesregierung daher höchste Priorität haben. Etwas Hoffnung bieten dabei die kleinen Partner in der potenziellen Jamaika-Koalition. Sowohl die FDP als auch die Grünen haben im Wahlkampf versprochen, die noch staatlichen Anteile an der Deutschen Telekom verkaufen zu wollen. Die zehn Milliarden Euro, die dabei erlöst werden könnten, sollten in den sofortigen Glasfaserausbau gesteckt werden. Es wäre immerhin wesentlich mehr, als drei Merkel-Regierungen in den vergangenen zehn Jahren in diesem Bereich investiert haben.

Quelle: www.tagesspiegel.de

 

 

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